Demenz und die Frage von Nutzen versus Belastung aller - ausser der Dementen
Die Rundschau wie auch andere Sendungen bringen derzeit viel über das Demenz-Problem in unserer Gesellschaft. Das Problem ist an sich nicht nicht Demenz, sondern was wir daraus machen. Es scheint wie mit der Umwelt zu sein: Wir leben auf Kosten der nachfolgenden Generationen.
In der Sendung fand ich eine Aussage einer betroffenen Tochter sehr bedenkenswert. Ihr Aussehen war elegant gekleidet, mein Eindruck war sofort, dass sie in ihrer Lebensphase wohl recht begütert ist. Die Reporterin fragte sie, was die Pflege ihrer Mutter denn diesen Monat gekostet habe. Die Dame darauf: Es sei diesen Monat schon grad aussergeöhnlich hoch gewesen: CHF 11'000 seien es gewesen.
Zum Glück sass ich schon, sonst hätte mich das umgehauen. Wenn das aussergewönlich war, dann scheint der irgendwann erwähnte Durchschnitt von CHF 8'000 wohl realistisch zu sein. Herrgot, wer kann sich das eigentlich leisten? Als Töcher, als Söhne? Muss man heute Klotz ranschaffen, um seine Eltern durchzupäppeln, bis der Körper zusammenbricht? Denn der Geist, der ist ja schon bei vielen Dementen anderswo.
Die Reporterin daraufhin: Ob ihr schon jemals der Gedanke gekommen sei, ob sich das lohne. Eine für viele wohl freche Frage, für mich aber die Frage schlechthin. Die Dame fiel darob nicht aus der Fassung, sondern antwortete, dass sie diesen Betrag schon verstünde angesichts der Leistung, die sie dahinter schon beobachtet habe. Ok. Sie scheint es sich leisten zu können.
Was wäre denn, die Mutter wäre ein Haus? Es steht noch da, ist aber verlottert, muss an allen Ecken und Kanten repariert werden, und der Bewohner ist zwar noch da, aber ihn kümmert sein Haus eigentlich gar nicht. Ja, er bemerkt gar nicht (mehr), wie es um das Haus steht, dass sich andere darum kümmern (müssen), denn täten sie es nicht, das Haus in sich zusammenstürzte und abgerissen werden müsste.
Bei einem Haus wäre die Kosten/Nutzen-Analyse eine logische Sache und jeder würde sie machen. Nostalgie dürfte aufkommen, aber sie würde wohl angesichts der finanziellen Belastungen der Wartung bald aufgeben oder aufgegeben werden müssen.
Sogar bei einem Haustier denken wir viel rationaler, oder gar viel einfühlsamer? Als ich vor zwei Jahren mit meinem ganz jungen Kater notfallmässig zum Tierarzt musste, der mir als damals Unkundingen bezüglich Katzenkrankheiten eröffnete, dass der Kater eigentlich sofort eingeschläfert werden müsste, traf mich das - weil unerwartet - doch tief. Als ich den Kater allerdings auf dem Tisch des Veterinärs nun eingedenk dieser Sachlage beobachtete, war mir klar, dass ich erstens nur noch einen angegriffenen Körper am Leben erhielte und zweitens dass es sogar sehr teuer würde, dies zu tun - bei ungewissem Ausgang nota bene.
Die Katze konnte mir nicht sagen, was sie will. Sie war teilnahmslos. Nach einem tiefen Durchatmen entschloss ich mich, dem Rat des Tierarztes zu folgen und den Kater einzuschläfern. Wie ich in den nächsten Tagen auf einer anderen Ebene spürte, dankte er es mir, denn es schien ihm eine schöne letzte Lebensphase gewesen zu sein, auch wenn ich das ZHeit seines Lebens gar nicht bemerkte. Was ich allerdings schon bemerkte, war ein anderer Umgang meinerseits mit ihm als mit dem gleichzeitig adoptierten, noch jüngeren anderen Kater. Eine Zurückhaltung, eine Achtsamkeit ihm gegenüber, die der Jüngere so nicht bekam von mir.
Doch nun zurück zu der Demenz. Ich arbeite teilzeitig in einem Pflegezentrum, wo es eine Demenzabteilung gibt. Ich erlebe also fast täglich den Zustand der Dementen. Es ist ein interessanter Zustand, denn die Schwerdementen haben keine Zeit mehr, keine Historie, keine Zukunft, keine Pläne. Sie leben und erleben im Hier und Jetzt. Sie sind wie Babies: Sie haben ihren Körper nicht mehr unter Kontrolle, sie werden hässig und aggressiv, wenn ihnen was nicht passt, sie sind aber auch leicht abzulenken über TV, einfach über was sich Bewegendes.
Was uns "Gesunde" bei deren Beobachtung wohl beschleicht, ist die Sache mit der Gegenwartsbezogenheit und natürlich dem Tod. Wie wäre es, würde ich nicht mehr wissen, was ich gestern tat, ja mein ganzes bisheriges Leben? Dass ich biologische Nachfahren zeugte? Dass der Erhalt des Körpers meine Nachfahren enorm belastet? Weiss ich, dass es ein Leben vor dem Tod gibt? Weiss ich, dass ich sterbe? Mache ich mir Gedanken über den Tod? Eben wohl nicht. Die Dementen können aufgrund des Verblassens aller Zeitbegriffe eventuell viel besser damit umgehen, dass ihr Körper stirbt. Ja, eventuell würden sie es ja garnicht bemerken, dass sie gestorben sind. Oder, vielleicht sind sie das ja schon, auch wenn der Körper noch durchgefüttert und gepampert wird.
Weil die meisten der Frage nach Leben und Tod zeit ihres "Lebens" aus dem Weg gehen, scheint die kühle Nutzensfrage eine unethische zu sein. Gerade orthodox religiös beeinflusste Menschen könnten diese Frage weit von sich weisen wollen. Obwohl sie verstandesmässig wissen, dass sie sie auch beantworten werden müssen, sollten sie ihre Eltern mal so erleben.
Wieso meinen wir denn, dass der Körper so wichtig ist? Dass es das höchste ist, ihn erhalten zu müssen? Egal, ob er (oder in der Analogie des Hauses) überhaupt noch mit Freude benutzt wird? Muss man denn das Haus erhalten, seinen Garten, die Fenster putzen, die Heizung laufen lassen, die Abfälle entsorgen, den Strom fliessen lassen, wenn man sieht, dass der Bewohner sich nicht mehr darum schert und diese Leistungen weder wahrnimmt noch geniessen kann?
Wie ich vor Jahren schrieb, habe ich mir all diese Fragen seit über 20 Jahren gestellt und wurde mit dem Tod meiner Mutter vor wenigen Jahren auch hautnah mit ihnen konfrontiert. Für mich ist der Fall klar. Eine Patientenverfügung ist die Lösung für mich. Auch wenn ich bis heute keine Nachfahren habe, möchte ich den Erhalt meiner Biomasse nicht Nachfolgegenerationen auflasten. Sie soll der Natur oder dem Feuer übergeben werden, denn wie wir alle wohl hoffentlich wissen: Rein physikalisch ist kein einziges Atom aus unserem Körper geboren worden. Kein einziges Atom wird sterben, denn bis auf die Kernfusion oder -spaltung haben wir es noch nicht geschafft, dass die Materie, aus der unsere Körper bestehen, sich wirklich veränderte. So sind die Atome der Wassermoleküle in unserem Körper wohl schon Milliarden Jahre alt. Geboren in einer Supernova, seither im Universum rumgetingelt, irgendwie von irgendwem geformt worden zu Sonnen, Planeten, Steinen, Pflanzen, Tieren, Menschen - und wieder aufgelöst im Feuer der Kremation oder der Verrottung und Zersetzung, Nahrung für Mikrobiologie.
Was also stirbt denn da scheinbar? Die Materie nicht. Darf man sich also schon mal überlegen, was das Leben ausmacht? Darf man sagen, dass es eine Erleicherung ist, wenn der demente Angehörige (endlich) geht?
Der Schluss dieses Beitrages soll daher einer 82-jährigen Frau gehören, die ihren dementen, ebenfalls 82-jährigen Mann nach sieben Jahre der Eigenpflege ins Pflegeheim brachte. Auf die Frage, ob sie Schuldgefühle habe, ihn abzugeben: Nein, es sei eine Erleichterung. So ist es. Ihr Leben wird für sie wieder lebenswerter.
Denn wir als Gesellschaft sollten schon auch auf die Lebensqualität der Nachfahren achten. Denn eines ist hier in der Schweiz gewiss: Wir müssen immer mehr arbeiten, um die Steuern und Belastungen zu finanzieren, die unser Körpererhaltungssystem, sprich Gesundheitswesen, uns abverlangt. Im TV-Beitrag hiess es: Die Pflege der Dementen ist ein Armutsrisiko. Denn es ist ja klar, von wem wird genommen, bis er blank ist und zum Sozialfall wird? Der Nachfahre. Wenn der dann auf dem Existenzminimum ist, kommt der Staat. Und der Staat holt's wiederum von allen via Steuern.
Was und wie lange ist also ein lebenswertes Leben? Für die Dementen? Für deren Nachfahren? Ist Sterbehilfe genauso legitim und erwünscht wie Geburtshilfe? Aber für mich die amüsanteste Frage: Wer stirbt denn eigentlich? Und was für ein Theater macht dieses Ding daraus ... ;-)
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