Die Piraha leben in der Gegenwart
"TV macht dumme Leute dümmber, gescheite Leute gescheiter", hab nicht ich gesagt, stimmt aber. Man hat's ja selbst in der Hand, was man sehen möchte. Heute wollte ich eigentlich nicht TV schauen, aber in der DOK-Reihe kam ein interessanter Film über das indigene Volk der Piraha, das im Amazonas-Urwald lebt. Gemäss einem zum Sprachforscher aufgestiegenen, ehemaligen Missionar, Daniel Everett, haben sie in ihrer Sprache einige Besonderheiten, die die etablierte Linguistik-Wissenschaft erschütterte
Zu der Sprache kam er offenbar dadurch, dass als Missionar eingetroffen bei den Piraha, er diese halt nicht konvertieren konnte, im Gegenteil, von ihnen zum Atheisten geführt wurde. Wenn ein Missionar sowas mit sich machen lässt, muss er Dinge erlebt haben, die ihn erschütterten in seinem Weltbild.
Im Film sagt Everett, dass diese Gelassenheit der Piraha ihm auffiel. Derart stark, weil sie in der Gegenwart leben. Er sagte, das klassische Ziel der Mission sei es, Menschen davon zu überzeugen, dass sie verloren seien und dass sie deshalb ein Ziel bräuchten, das die Mission ihnen im Glaube an Gott dann bringen könne. Der Piraha-Chef sagt im Film aber "Wir kennen den Gott nicht, wir brauchen ihn nicht." und anderswo "Wir brauchen nichts vom Himmel, wir brauchen das von der Erde".
Die Piraha brauchen keine Fremden, sind aber auch nicht abgeneigt. Everett erzählte, dass er in den 30+ Jahren, in welchen er bei den Piraha lebte, anfangs schon Integrationsprobleme hatte - zur Erstellung des Films sei er aber harmonisch integriegt. Von seinen ursprünglichen Missionsideen hätten die Piraha nur die Kleidung angenommen, sonst nichts.
Everett kam also mit seinem christlichen Zeug überhaupt nicht an. Die Piraha widerstanden den Missionsbemühungen. Beiläufig begann er, ihre Sprache zu lernen, die man sowohl reden, singen, summen und auch pfeifen kann - was einem im Film gezeigt wird, wo die Piraha bei der Jagd sind - sehr nützlich, dass sich die Jäger beim Anschleichen an einen Affen mit Pfeifen unterhalten können. Wo im Urwald Pfeifen ja wohl zu den normalsten Geräuschen gehört.
Everett fand auch heraus, dass die Sprache kein Zahlensystem kennt. Das sei nicht so selten, aber das wirklich Aufmüpfige an seinen Feststellungen war, dass er keinerlei Rekursion in der Sprache feststellte - das Vorhandensein der Rekursion stelle jedoch nach dem Linguistik-Papst Chomsky ein Grundstein jeglicher menschliche Sprache dar. Die Rekursion in der Sprache erlaubt es, mehere Sätze oder Satzteile zusammenzusetzen, und sei es nur durch eine Konjunktion.
Beispiel: "Peter liebt Maria und Hans liebt Elise". Hier sind zwei unabhängige Sätze mit der Konkunktion "und" verknüpft, man könnte dem auch End-Rekursion sagen, da die Rekursion am Ende des Satzes vorkommt. Eine andere Rekursionsart findet sich in "Hugo sagt, Peter liebt Maria", eine einfach Rekursion oder "Ernst sagt, Hugo sagt, Peter liebt Maria" eine zweifache Rekursion. Computerprogrammierer haben üblicherweise mit dem Verständnis der Rekursion kein PRoblem mehr, sobald sie zum ersten Mal balancierte Bäume oder Quicksort als LErnaufgabe programmieren müssen ... die müssen das echt lernen.
Wir lernen das in der Sprache wohl automatisch mit. Deshalb wohl kam Chomsky zur Annahme, dass sowas absolut grundlegend ist für menschliche Sprache, denn nur dadurch können wir in einem Satz komplexere Dinge darstellen. Jeder Nebensatz, von denen ich ja auch gern viele brauche, ist schon eine Rekursion. Die Rekursion fängt ja einen neuen Satz an, der sich in seinem eigenen Kontext darstellt, dessen Resultat man sich aber gemäss Schreiber merken muss, um den zuvor begonnenen und durch die Rekursion unterbrochenen Satz verstehen zu können.
Fehlt also die Rekursion in einer Sprache, hat die Entwicklung dieser Gemeinschaft es nicht für nötig befunden, temporär zu speichern, etwas Neues zu beginnen, und dessen Resultat mit dem zuvor gespeicherten zu verknüpfen. Das machen wir die ganze Zeit seit wir hören, lesen und verstehen können. Auch wenn die nötige Vorhaltezeit für Zwischengespeichertes nicht lange ist, so ist dennoch das Konzept Zeit involviert. Welches unser Zeitfenster ist, haben Sprachwissenschaftler ja auch erforscht. Der Moment der Gegenwart dauere bei uns ca. 3 Sekunden. Nur in dem Zeitfenster haben wir Zugriff auf den Stack der Rekursion (Zwischenspeicher zur Rückkehr zum Unterbrochenen) und können die komplette Aussage eiens Satzen erfassen. Macht man also bei uns Sätze, die länger gehen, muss sich das Hörerpublikum schon konzentrieren, um die Aufmerksamkeitszeit zu verlängern.
Vom Gehirn wird also Zeit- und Speichermanagement verlangt. Genau dies haben die Piraha aber nicht. Da Sprache aus der Notwendigkeit zur Kommunikation mit Gemeinschaftsmitgliedern entsteht, lässt also das Wegbleiben der Rekursion den Schluss zu, dass die Gemeinschaft im Alltag keine Zeit kennt, dass ihre Mitglieder nur in der Gegenwart leben.
Neben derm Sturm im Wasserglas der Linguistiker ist vor allem dies eine schöne Entdeckung: Da gibt es also im Herzen des Amazonas ein kleines Volk, das (immer noch) von den Resourcen des Waldes und des Flusses lebt. Keine Sorgen, keine Ängste, keine Vorsorge, kein Nachtrauern, kein längerfristiges Planen: Ist das nicht nach der Definition vieler spiritueller Richtungen und Sehnsüchtlern einfach - Glück?
Vor ca. 2 Jahren wollte Everett nochmals zu den Piraha hin, durfte aber nicht. An seiner Statt durfte aber das Filmteam des ersten Films nochmals hin. Dieses fand eine geänderte Umgebung vor, die Piraha haben nun Häuser, Licht, Motoren, Schulen, TV und lernen portugiesisch. Alles Dinge, die das Konzept der Zeit einführen, Vor- und Nachsorge. Da Everett gegen den Willen der Piraha selbst von der Gesellschaft zum Schutze indigener Völker von den Piraha ferngehalten wurde, konnte er ihnen nur eine Videobotschaft mitgeben, in der er seine Wehmut ausdrückte. Und im Kommentar hoffte er, dass sie stark und eigenständig bleiben.
Für mich ein toller DOK. Zeigt er doch, dass man wirklich in dieser Welt in der Gegenwart leben kann. Dass uns das grad ein sogenannt ursprüngliches Volk sogar mit ihrer Sprache zeigen kann, ist doch bemerkenswert für unsere so "fortgeschrittene" Gesellschaft ... die glückicher ja nicht ist.
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