Wenn Algorithmen übernehmen ...

Heute war im heise-Newsticker ein Text über den Ver.di-Chef Frank Bsirske, der die "demokratischen Gegenkräfte" zum Digital-Kapitalismus aufrufe. Weil Computerprogramme entscheiden und dabei Demokratie auf der Strecke bleibe.

Finde ich auch. Und zwar, weil ich mit 30+ Jahren IT Erfahrung auf intensivster Ebene bereits ein Opfer dieser mir bestens bekannten Denkweisen bin. Und weil meine Freundin ebenfalls in der USA mindestens viermal unter meinen Augen "dank" Algorithmen Jobs nicht bekam.

Heute habe ich mein Profil gelöscht bei einem Body Leaser im IT-Bereich, den ich seit dessen Existenz kenne. Warum? Weil die in ihrer Vermittlung - natürlich unter dem Titel Optimierung - ihre Bewerbungsprozesse automatisierten. Diese Prozesse sind derart gestaltet, dass sie eigentlich zur Lüge auffordern oder perfekte Kandidaten liefern, deren Hauptarbeit es wohl sein musste, brav Zertifikate zu erwerben, aufzubewahren und in den Fragebogen reinzuhacken.

Lügen deshalb. weil: Wenn man die Felder nicht ausfüllen kann/will, geht der Prozess nicht weiter. Lügen auch deshalb, weil Leute meiner IT-Generation unseren Beruf und unsere Berufung fanden, als all der Zertifikatskram noch gar nicht da war. Es gab auch viele der Tools und Buzzwords schlichtweg nicht, als wir unsere Kompetenz erlernten.

Da wird heute Anforderungen an Tools gesprochen, die ich im Detail natürlich nicht alle kenne, aber wenn Konzeptionen mal gelernt wurden, ist selbst der neueste Schrei oft nur alter Wein in neuen Schläuchen. Wenn ich SCRUM und Agile lese ... dass ich mich da zertifiziert ausweisen müsse ... kann ich nur heulen und lachen ... ich mache das seit 30 Jahren so - nur eben ohne fancy Namen. Dazwischen kamen Software-Design-Prozesse nach starren Regeln, Wasserfall-Diagramme etc. etc. und heute - wohl auch nur wegen der mobilen Hatz - merken sie, dass die altvordere Art der Entwicklung nun doch wieder gut ist - nur muss es halt nun einen neuen Titel haben. Die IT ist sowieso extrem Buzzword-lastig. Was man da alles fallen lassen kann oder muss, um zu gefallen.

In meinem Fall ist es noch so, dass ich vor 25 Jahren Leute schulte, für deren Berufe ich heute ein Zertifikat brauche. Ich könnte also den Beruf nicht mehr bekommen, für den ich Leute ausbildete. Genau das ist mir bei dem Body Leaser heute passiert.

Ich hatte zwei Stellen gefunden, für die ich mich bewerben wollte. Ich empfand mich für diese Jobs durchaus geeignet. Doch wegen der Algorithmik kam ich nicht weiter.

Das hat mich zugegebenermassen sehr geärgert, so dass ich mich halt zum Lügen genötigt fühlte. Denn eigentlich mochte ich ja nur mal mit dem Kunden im Angesicht gegenüberstehen, damit der sich ein Bild von mir und ich von ihm machen kann. Das kommt aber nicht mal mehr zustande.

Ich könnte sagen: Der Kunde wird vom Body Leaser vorgeführt. Der Kunde erfährt nicht mehr, was an Potential da ist, sondern nur noch, was an getaggten Arbeitskräften durch die Filter durchgereicht wird. Und wenn dann noch in der Ausschreibung steht "Interessiert, neugierig, belastbar, Team-Player" sei gefordert, gerade diese Softskills, die ein Fragebogen eh nicht erfasst, so zeigt sich die Häme im aktuellen IT-Markt.

Ich verstehe sehr wohl, dass ein Job-Anbieter Vermittler einspannen will, um den Prozess abzugeben. Doch: Der dannzumal gelieferte Kandidat muss ja in dessen Kultur, dessen Umfeld passen, die menschlichen Skills, gerade wenn sie gefordert sind, müssen erfahrbar sein. Wie soll das gehen, wenn ein Filter Personen bereits vom persönlichen Kontakt mit dem Anbieter fernhält?

IT-Fähigkeiten kann sich heute jeder aneignen. Das Internet ist sehr hilfreich dabei und ich bin selbst darüber sehr froh, dass Leute ihre Kenntnisse mitteilen. Dann damit kann man wachsen. Dass man aber mit Filtern Leute vom Anwenden ihrer Fähigkeiten abhält, das ist eigentlich schlichtweg unverständlich und vor allem auch zynisch.

Im TV kommen ab und an kurze Beiträge über ältere ITler, die Bewerbungen über Bewerbungen schreiben und doch nicht mehr genommen werden. Wieso? Nur weil die alten Weine eben in immer kürzeren Intervallen in den neuen Schläuchen gereicht werden? Und man meint, das "Moderne" könne ein Alter nicht mehr? Was ist an

Und niemand lernt mehr ausreichend tiefgehend: All die Sicherheitsprobleme, die sich im Internet und im aufkommenden IoT auftun, entstehen nicht von den Alten her, sondern auch von jungen Leuten. Wer konzeptionell bei Software schon Fehler macht, kann sie nachher nicht so einfach korrigieren. Das hat dann nichts mit modernen Tools zu tun, sondern eben mit Sensibilisierung aufs Thema. Und gerade da sehe ich nicht, dass ein alter ITler das nicht könnte, wenn er sich nicht total den Entwicklungen verschlossen hat.

Im Gegenteil, Komplexitäten können gute ITler erfassen und beherrschen. Schlechte nicht. Und diese Fähigkeit wächst sogar mit der Erfahrung. Auch das ist nicht mit Fragebogen erfassbar.

So habe ich also mein Profil gelöscht bei einem, der vielleicht mal Leute vermitteln wollte. Heute vermittelt er nur noch Arbeitsroboter, die mit den passenden Tags beklebt sind.

Ich kann mir gut vorstellen, dass dies eingeschnappt klingt. Ist mir an sich egal, denn ich habe es zwar heute an eigenem Leibe erlebt, aber mehr oder schlimmer finde ich es, wenn Algorithmen immer mehr über Leben von Menschen entscheiden. In meiner Sicht muss unbedingt bewahrt werden, dass im Arbeitsmarkt ein Treffen zwischen Bewerber und Anbieter möglich sein muss. Und der Vermittler das bleibt, was er ist: Ein Beschaffer. Die Entscheidung muss der Anbieter treffen können. Nicht der Fragebogen eines Vermittlers.

Denn wenn ich in der Beilage "IT & Karriere" der aktuellen c't lese, dass anpassungsfähige und flexible und vor allem Soft-Skill zeigende Leute gesucht werden - da kann ich ja eigentlich über die aktuellen Vermittler nur milde lächelnd den Kopf schütteln.

Und eben, man bedenke es eben auch weiter: Es gibt genug Abhandlungen darüber, was aufgrund Big-Data bereits alles möglich ist. Und wie das Menschen betrifft. Aufgrund all der Datenspuren ist es bekanntlich ein leichtes, den gesamten Lebensstatus eines Internetgängers sehr präzise einzuschätzen. Und wer will schon bei Krankenkassen nicht mehr angenommen, als nicht zahlungsfähig gelten, weil er sparsam einkauft, in einem unterklassigen Quartier wohnt, etc. etc.

Computer werden erst dann zur Gefahr, wenn Menschen meinen, sie bräuchten sich nicht mehr darum zu kümmern, was die Computer entscheiden, bzw. vergessen, dass es ev. Menschen trifft - dass de facto sie selbst den empathielosen Algorithmen der Computer ausgeliefert sind.

Wohl auf, die Roboter kommen, zuerst die körperlosen Assistenten von Google, Microsoft, Apple und Amazon, dann die Roboter. Nicht die Industrieroboter, sondern die mit den grossen Augen fürs Kindchenschema, dem Augenzwinkern, der launenerkennend modulierten Stimme ... wie war das noch bei RoboCop: Wo der Kasten aufgrund eines Fehlers einen Testkandidaten bei einer Demo übern Haufen schoss, obwohl der die Fake-Kanone auf Robis Aufforderung schon längst auf den Boden gelegt hatte - was Robi allerdings irgendwo in seiner Algorithmik nicht entsprechend würdigte. So musste sein Algorithmus dann halt doch nach Ablauf des Countdowns schiessen ...

Wie dem auch sei: Eigentlich schmerzt meine Kündigung eh nicht. Weil dieser Body Leaser mir in all den Jahren eh nie einen einzigen Job vermitteln konnte. Und weil ich zum Glück zu alt bin, um mich über Idiotien noch entwerten zu lassen. Ich wünsche, dass alle Leute ihr Selbstbewusstsein aus anderen Quellen erfahren, als aus dem Arbeitsmarkt. Zugegeben, schwierig. Doch machbar.

Verwandte Blog-Einträge

Kommentare (Kommentar-Moderation ist aktiv. Ihr Kommentar erscheint erst nach Prüfung.)
BlogCFC was created by Raymond Camden. This blog is running version 5.9.8.012. Contact Blog Owner